| | | | |
|
Der Nationale Verteidigungsrat der DDR (NVR)
Heiner Bröckermann – Dem Nationalen Verteidigungsrat der DDR (NVR) kam in der Aufbauorganisation der Landesverteidigung eine Spitzenfunktion zu. Formal war das Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) das höchste Führungsgremium der DDR, das Regierung und Staatsapparat als ausführenden Organen Beschlüsse und Weisungen vorgab. Das bedeutete jedoch nicht, dass hier alle wichtigen Staats- und Regierungsfragen entschieden wurden. Gerade für die zur Stützung des Regimes unverzichtbare Sicherheitspolitik schuf der SED-Vorsitzende Walter Ulbricht 1960 mit dem Nationalen Verteidigungsrat der DDR ein sicherheitspolitisches Führungszentrum. Dabei handelte es sich beim NVR auch um ein zusätzliches Machtinstrument, das Ulbricht und später Erich Honecker dazu dienen sollte, ihren persönlichen Einfluss und die Suprematie der SED zu sichern.
Die Vorgeschichte dieses Spitzengremiums der nationalen Sicherheit lässt sich auf die Phase nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 zurückverfolgen, als die „Sicherheitskommission beim Politbüro“ entstand – damals schon als ein Mittel der Kontrolle der SED unter der engen Führung von Walter Ulbricht. Sogar noch früher nachweisen lässt sich – unter der Leitung des Ministers für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser – die Einrichtung einer „Zentralen Kommission“ zur Bearbeitung von Fragen, die mit der innerdeutschen Grenze zusammenhingen. Insofern standen diese frühen Organisationsformen auch ganz im Zeichen eines DDR-typischen umfassenden Sicherheitsbegriffes als Zusammenfassung von äußerer und innerer Sicherheit. Zugleich war diese Spitze der Sicherheitsarchitektur verfassungsrechtlich noch gar nicht abgebildet. Als Instrumentarium dieser Sicherheitsarchitektur dienten die so genannten bewaffneten Organe der DDR. An erster Stelle standen dabei das Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) und die Nationale Volksarmee (NVA). Des Weiteren zählten dazu die Grenztruppen, das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das Ministerium des Innern (MdI) und die Volkspolizei, die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ und die Zivilverteidigung.
Das Gesetz zur Bildung des Nationalen Verteidigungsrats der DDR (NVR) wurde am 10. Februar 1960 von der Volkskammer offiziell beschlossen. Bei der Konstituierung des NVR am 16. März 1960 zeigte sich die Kontinuität zur Sicherheitskommission durch die Beibehaltung der üblichen Arbeitsorganisation, der grundsätzlichen Beschlüsse und Direktiven zur Sicherheit sowie in der Weiterverwendung der „Kontrollgruppe“ und der verzugslosen Überführung der bisherigen Unterstellung der Einsatzleitungen in den Bezirken der DDR auf den neuen NVR. Der ehemalige Sekretär der Sicherheitskommission Erich Honecker wurde im neuen Rat wieder als Sekretär verwendet, bis er schließlich 1971 den Vorsitz von Walter Ulbricht übernehmen konnte. In der Ära Honecker wurde die wichtige Sekretärsfunktion für die „organisatorische Arbeit“ des NVR bis 1989 vom späteren Generaloberst Fritz Streletz wahrgenommen, der 1979 auch zum Stellvertretenden Verteidigungsminister und Chef des Hauptstabes der NVA avancierte.
Der Sekretär des NVR organisierte die Arbeit des NVR. Er überwachte in Zusammenarbeit mit der militärisch besetzten Kontrollgruppe des NVR die Vorbereitung und Umsetzung der Sitzungsbeschlüsse. Auch die Hinzuziehung von Fachleuten und Berichterstattern mit „beratender Stimme“ wurde im Statut geregelt. Während unter Ulbricht mitunter noch Diskussionen während der Sitzungen geführt worden waren, setzte sich unter Honecker das im Politbüro eingeübte Procedere der kommentarlosen Zustimmung weiter fort. Im Prinzip war für Entscheidungen des NVR die Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder erforderlich. Abstimmungen im eigentlichen Sinne waren aber aufgrund der Einigkeit des eingespielten und vom Vorsitzenden dominierten Gremiums nicht notwendig. Vor den seltenen Sitzungen des NVR hatte zudem das Politbüro oft schon grundsätzliche Beschlüsse gefasst. Darüber hinaus waren im Vorfeld von Entscheidungen umfangreiche Mitzeichnungen und Abstimmungsgespräche üblich, so dass die in der Regel zweistündigen Zusammenkünfte nach dem Protokoll ein umfangreiches Pensum beinhalten konnten.
Das NVR-Gesetz von 1960 wies in § 1 dem NVR mit wenigen Worten die Aufgabe zu, „den Schutz des Arbeiter-und-Bauern-Staates und der sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen zu organisieren und zu sichern sowie die sich daraus ergebenden Maßnahmen festzulegen“. Neben dem Vorsitzenden sollte der Rat aus mindestens 12 Mitgliedern bestehen. § 1 Absatz 3 verpflichtete den Vorsitzenden des NVR, die Leitung auf der Basis eines vom Rat zu beschließenden Statutes auszuüben. Waren die Aufgaben des NVR gesetzlich zwar schon ausgeführt worden, konnte in einem geheim gehaltenen Statut Genaueres beschrieben werden. In der konstituierenden Sitzung des NVR vom 16. März 1960 wurde ein erstes Statut verabschiedet, das in der Folgezeit 1967, 1973 und 1981 neu gefasst wurde und Bestandteil der jeweiligen Sitzungsprotokolle ist. Die Statuten spiegeln dabei kaum eine weitere Entwicklung wider, so dass daher schon Anfang der Siebzigerjahre der Ausbau der Organisation des NVR als weitgehend abgeschlossen gelten kann.
Die in den Statuten beschriebenen Aufgaben zur Beschlussfassung im NVR lassen sich in drei große Gruppen aufteilen – den militärisch-sicherheitstechnischen, den politischen und den wirtschaftlichen Beschlüssen. Dabei muss man allerdings die Tragweite und Ziele in den politischen und wirtschaftlichen Beschlüssen eingrenzen. Auf politischem Gebiet ging es vor allem um die Bestimmungen für den „Staatsnotstand“ und den „Kriegszustand“ bzw. „Verteidigungszustand“ sowie die Festlegung der „Hauptaufgaben“ für die „patriotische Erziehung“, die „Stellung von militärpolitischen Aufgaben“ für die so genannten gesellschaftlichen Organisationen und die Beratung von „sicherheitsrelevanten Maßnahmen mit Blick auf die Bundesrepublik“ sowie Beratungen über Kaderfragen der bewaffneten Organe. Im Bereich der Wirtschaft handelte es sich besonders um alle Fragen der Umstellung von der Friedens- auf die Kriegswirtschaft, die Weiterentwicklung der Rüstungsindustrie, die „Standortverteilung der Industrie“ und die „Schaffung notwendiger Einsatzreserven“.
Das erste Statut führte vier Arten von Meldungen auf, die dem NVR zugehen sollten. Nach den Sofortmeldungen an den Vorsitzenden „über Gefährdung der staatlichen Sicherheit bzw. unmittelbare Vorbereitung imperialistischer Aggressionen“ und den Meldungen im „Kriegsfalle bzw. im Falle konterrevolutionärer Unruhen“ wurden die Jahresberichte „über den Erfüllungsstand der Maßnahmen zur Vorbereitung der Landesverteidigung, einschließlich der Ausbildung und Einsatzbereitschaft der bewaffneten Kräfte“ als Aufgaben von MfNV und MdI festgelegt. Schließlich waren der Verlust von geschützten Dokumenten oder andere Geheimschutzverletzungen an den Sekretär zu melden. Während sich der NVR regelmäßig mit den Berichten über den „Stand der Vorbereitung auf den Verteidigungszustand“ in den unterschiedlichen Bereichen von Armee, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigte, gehörten – besonders seit den Siebzigerjahren – Berichte über die NATO-Streitkräfte sowie deren Übungen und Manöver zur Tagesordnung. Immer wichtiger wurden mit der Zeit auch die Unterstützungsleistungen bzw. die so genannte „Sicherstellung der Operationsfreiheit“ für die Streitkräfte der Warschauer Vertragsorganisation auf dem Boden der DDR.
Nach dem ersten Statut sollte der NVR im Frieden einmal im Monat tagen. Die Einberufung zur Sitzung erfolgte durch den Vorsitzenden selbst. Jedes Mitglied des NVR hatte aber das Recht, nach eigener Einschätzung eine außerordentliche Sitzung zu beantragen. Allerdings musste der Antrag an den Vorsitzenden des NVR oder seinen Sekretär erfolgen und letztlich fällte dann der Vorsitzende allein die Entscheidung. Der NVR konnte gemäß Statut grundsätzlich jederzeit aus besonderem Anlass nach Einberufung durch den Vorsitzenden zusammenkommen, nämlich im „Falle konterrevolutionärer Aktionen und Gefährdung der staatlichen Sicherheit, im Falle der unmittelbaren Gefahr einer imperialistischen Aggression und zur unverzüglichen Entscheidung wichtiger militärischer Maßnahmen“. In der Krise wurde der NVR gemäß seines ersten Statuts ein „Ständiges Führungsorgan“ und sollte von einer „zentralen Führungsstelle“ aus alle politischen, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen leiten. Diese organisatorisch herausgehobene Stellung wurde jedoch durch das politische Primat der SED-Führung und das militärische Primat der sowjetisch dominierten Warschauer Vertragsorganisation relativiert.
Nach dem Gesetz über die Bildung des Nationalen Verteidigungsrates vom 10. Februar 1960 bestand der NVR aus dem Vorsitzenden und mindestens 12 Mitgliedern. Außer dem Vorsitzenden des NVR wurden die anderen Mitglieder nicht öffentlich bekannt, auch wenn aufgrund der Funktion im Sicherheitsapparat eine Mitgliedschaft offensichtlich war. Zu den Mitgliedern gehörten regelmäßig: der Präsident der Volkskammer, der Vorsitzende des Ministerrates und dessen beiden ersten Stellvertreter, die Minister des Innern, für Nationale Verteidigung und für Staatssicherheit, die Sekretäre des Zentralkomitees der SED für Sicherheit, Wirtschaft, Landwirtschaft und Ideologie, die Chefs der Politischen Hauptverwaltung und des Hauptstabes der NVA, der Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen im Zentralkomitee der SED, sowie die SED-Sekretäre der grenznahen Bezirke Suhl und Magdeburg. Grundlage der Leitungsfunktion des Vorsitzenden sollte das interne Statut des NVR sein. Demnach regelte der Vorsitzende auch seine Stellvertretung selbst. Erich Honecker hat sich jedoch niemals bei einer Sitzung des NVR vertreten lassen. Er führte bei jeder der Sitzungen von 1971 bis 1989 in seiner Zeit als Vorsitzender des NVR auch den Vorsitz. Dass er davon nicht abwich, wird wohl vor allem der persönlichen Erinnerung an sein eigenes Vorgehen gegen Ulbricht zugeschrieben werden können. Die letzte und 78. Sitzung des NVR fand am 16. Juni 1989 statt. In der kurzen Zeit des Vorsitzes von Egon Krenz ist keine NVR-Sitzung überliefert.
Der NVR wurde in der Literatur auch als „Notstandsregierung im Wartestand“ beschrieben. In der Tat wären aufgrund der Gesetzgebung der DDR im Verteidigungszustand umfangreiche Befugnisse auf den NVR gefallen, was die ohnehin schwache parlamentarische Konstruktion der DDR vollends zugunsten der SED-Spitze und parteieigener Strukturen ausgehebelt hätte. Dabei sind die organisatorischen Vorkehrungen für den Verteidigungszustand von der SED-Parteiorganisation und der Warschauer Vertragsorganisation vielseitig beeinflusst worden. So konnte neben der organisatorischen Spitze der Landesverteidigung im NVR und der „Führungsstelle der Partei- und Staatsführung“ der Einfluss der Partei und der sowjetischen militärischen Führung auf dem Territorium und in den Bezirken erhalten bleiben. Besonders in der Innenpolitik und der Wirtschaft der DDR hätte sich der NVR durch ein nur für den Verteidigungszustand vorbereitetes System von „Beauftragten“ ausgewirkt, dass alle Bereiche von Staat und Gesellschaft auf wenige Schlüsselpositionen unter dem Vorsitzenden des NVR bzw. dem Generalsekretär der SED konzentriert hätte.
Der NVR zeichnete aber nicht nur für die Umsetzung der Leitlinien und Beschlüsse der Militär- und Sicherheitspolitik der DDR verantwortlich. Gleichzeitig diente er der Sowjetunion über das Vereinte Kommando des Warschauer Vertrages zur Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen in dem ostdeutschen Staat sowie gegenüber Westeuropa und der NATO. Damit war der NVR wohl weitgehend funktionsidentisch mit den Sicherheitsstrukturen der anderen nichtsowjetischen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes. Auch diese fungierten letztlich als Instrumente zur Wahrung der sowjetischen Hegemonial- und Bündnisinteressen in Osteuropa, wenn es auch kein einheitliches Modell der Sicherheitsorganisation im Warschauer Pakt gegeben hat und in einzelnen Staaten des Ostblocks historische Strukturen und nationale Besonderheiten bewahrt worden waren.
Impressum | Datenschutz
Die Vorgeschichte dieses Spitzengremiums der nationalen Sicherheit lässt sich auf die Phase nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 zurückverfolgen, als die „Sicherheitskommission beim Politbüro“ entstand – damals schon als ein Mittel der Kontrolle der SED unter der engen Führung von Walter Ulbricht. Sogar noch früher nachweisen lässt sich – unter der Leitung des Ministers für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser – die Einrichtung einer „Zentralen Kommission“ zur Bearbeitung von Fragen, die mit der innerdeutschen Grenze zusammenhingen. Insofern standen diese frühen Organisationsformen auch ganz im Zeichen eines DDR-typischen umfassenden Sicherheitsbegriffes als Zusammenfassung von äußerer und innerer Sicherheit. Zugleich war diese Spitze der Sicherheitsarchitektur verfassungsrechtlich noch gar nicht abgebildet. Als Instrumentarium dieser Sicherheitsarchitektur dienten die so genannten bewaffneten Organe der DDR. An erster Stelle standen dabei das Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) und die Nationale Volksarmee (NVA). Des Weiteren zählten dazu die Grenztruppen, das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das Ministerium des Innern (MdI) und die Volkspolizei, die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ und die Zivilverteidigung.
Das Gesetz zur Bildung des Nationalen Verteidigungsrats der DDR (NVR) wurde am 10. Februar 1960 von der Volkskammer offiziell beschlossen. Bei der Konstituierung des NVR am 16. März 1960 zeigte sich die Kontinuität zur Sicherheitskommission durch die Beibehaltung der üblichen Arbeitsorganisation, der grundsätzlichen Beschlüsse und Direktiven zur Sicherheit sowie in der Weiterverwendung der „Kontrollgruppe“ und der verzugslosen Überführung der bisherigen Unterstellung der Einsatzleitungen in den Bezirken der DDR auf den neuen NVR. Der ehemalige Sekretär der Sicherheitskommission Erich Honecker wurde im neuen Rat wieder als Sekretär verwendet, bis er schließlich 1971 den Vorsitz von Walter Ulbricht übernehmen konnte. In der Ära Honecker wurde die wichtige Sekretärsfunktion für die „organisatorische Arbeit“ des NVR bis 1989 vom späteren Generaloberst Fritz Streletz wahrgenommen, der 1979 auch zum Stellvertretenden Verteidigungsminister und Chef des Hauptstabes der NVA avancierte.
Der Sekretär des NVR organisierte die Arbeit des NVR. Er überwachte in Zusammenarbeit mit der militärisch besetzten Kontrollgruppe des NVR die Vorbereitung und Umsetzung der Sitzungsbeschlüsse. Auch die Hinzuziehung von Fachleuten und Berichterstattern mit „beratender Stimme“ wurde im Statut geregelt. Während unter Ulbricht mitunter noch Diskussionen während der Sitzungen geführt worden waren, setzte sich unter Honecker das im Politbüro eingeübte Procedere der kommentarlosen Zustimmung weiter fort. Im Prinzip war für Entscheidungen des NVR die Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder erforderlich. Abstimmungen im eigentlichen Sinne waren aber aufgrund der Einigkeit des eingespielten und vom Vorsitzenden dominierten Gremiums nicht notwendig. Vor den seltenen Sitzungen des NVR hatte zudem das Politbüro oft schon grundsätzliche Beschlüsse gefasst. Darüber hinaus waren im Vorfeld von Entscheidungen umfangreiche Mitzeichnungen und Abstimmungsgespräche üblich, so dass die in der Regel zweistündigen Zusammenkünfte nach dem Protokoll ein umfangreiches Pensum beinhalten konnten.
Das NVR-Gesetz von 1960 wies in § 1 dem NVR mit wenigen Worten die Aufgabe zu, „den Schutz des Arbeiter-und-Bauern-Staates und der sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen zu organisieren und zu sichern sowie die sich daraus ergebenden Maßnahmen festzulegen“. Neben dem Vorsitzenden sollte der Rat aus mindestens 12 Mitgliedern bestehen. § 1 Absatz 3 verpflichtete den Vorsitzenden des NVR, die Leitung auf der Basis eines vom Rat zu beschließenden Statutes auszuüben. Waren die Aufgaben des NVR gesetzlich zwar schon ausgeführt worden, konnte in einem geheim gehaltenen Statut Genaueres beschrieben werden. In der konstituierenden Sitzung des NVR vom 16. März 1960 wurde ein erstes Statut verabschiedet, das in der Folgezeit 1967, 1973 und 1981 neu gefasst wurde und Bestandteil der jeweiligen Sitzungsprotokolle ist. Die Statuten spiegeln dabei kaum eine weitere Entwicklung wider, so dass daher schon Anfang der Siebzigerjahre der Ausbau der Organisation des NVR als weitgehend abgeschlossen gelten kann.
Die in den Statuten beschriebenen Aufgaben zur Beschlussfassung im NVR lassen sich in drei große Gruppen aufteilen – den militärisch-sicherheitstechnischen, den politischen und den wirtschaftlichen Beschlüssen. Dabei muss man allerdings die Tragweite und Ziele in den politischen und wirtschaftlichen Beschlüssen eingrenzen. Auf politischem Gebiet ging es vor allem um die Bestimmungen für den „Staatsnotstand“ und den „Kriegszustand“ bzw. „Verteidigungszustand“ sowie die Festlegung der „Hauptaufgaben“ für die „patriotische Erziehung“, die „Stellung von militärpolitischen Aufgaben“ für die so genannten gesellschaftlichen Organisationen und die Beratung von „sicherheitsrelevanten Maßnahmen mit Blick auf die Bundesrepublik“ sowie Beratungen über Kaderfragen der bewaffneten Organe. Im Bereich der Wirtschaft handelte es sich besonders um alle Fragen der Umstellung von der Friedens- auf die Kriegswirtschaft, die Weiterentwicklung der Rüstungsindustrie, die „Standortverteilung der Industrie“ und die „Schaffung notwendiger Einsatzreserven“.
Das erste Statut führte vier Arten von Meldungen auf, die dem NVR zugehen sollten. Nach den Sofortmeldungen an den Vorsitzenden „über Gefährdung der staatlichen Sicherheit bzw. unmittelbare Vorbereitung imperialistischer Aggressionen“ und den Meldungen im „Kriegsfalle bzw. im Falle konterrevolutionärer Unruhen“ wurden die Jahresberichte „über den Erfüllungsstand der Maßnahmen zur Vorbereitung der Landesverteidigung, einschließlich der Ausbildung und Einsatzbereitschaft der bewaffneten Kräfte“ als Aufgaben von MfNV und MdI festgelegt. Schließlich waren der Verlust von geschützten Dokumenten oder andere Geheimschutzverletzungen an den Sekretär zu melden. Während sich der NVR regelmäßig mit den Berichten über den „Stand der Vorbereitung auf den Verteidigungszustand“ in den unterschiedlichen Bereichen von Armee, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigte, gehörten – besonders seit den Siebzigerjahren – Berichte über die NATO-Streitkräfte sowie deren Übungen und Manöver zur Tagesordnung. Immer wichtiger wurden mit der Zeit auch die Unterstützungsleistungen bzw. die so genannte „Sicherstellung der Operationsfreiheit“ für die Streitkräfte der Warschauer Vertragsorganisation auf dem Boden der DDR.
Nach dem ersten Statut sollte der NVR im Frieden einmal im Monat tagen. Die Einberufung zur Sitzung erfolgte durch den Vorsitzenden selbst. Jedes Mitglied des NVR hatte aber das Recht, nach eigener Einschätzung eine außerordentliche Sitzung zu beantragen. Allerdings musste der Antrag an den Vorsitzenden des NVR oder seinen Sekretär erfolgen und letztlich fällte dann der Vorsitzende allein die Entscheidung. Der NVR konnte gemäß Statut grundsätzlich jederzeit aus besonderem Anlass nach Einberufung durch den Vorsitzenden zusammenkommen, nämlich im „Falle konterrevolutionärer Aktionen und Gefährdung der staatlichen Sicherheit, im Falle der unmittelbaren Gefahr einer imperialistischen Aggression und zur unverzüglichen Entscheidung wichtiger militärischer Maßnahmen“. In der Krise wurde der NVR gemäß seines ersten Statuts ein „Ständiges Führungsorgan“ und sollte von einer „zentralen Führungsstelle“ aus alle politischen, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen leiten. Diese organisatorisch herausgehobene Stellung wurde jedoch durch das politische Primat der SED-Führung und das militärische Primat der sowjetisch dominierten Warschauer Vertragsorganisation relativiert.
Nach dem Gesetz über die Bildung des Nationalen Verteidigungsrates vom 10. Februar 1960 bestand der NVR aus dem Vorsitzenden und mindestens 12 Mitgliedern. Außer dem Vorsitzenden des NVR wurden die anderen Mitglieder nicht öffentlich bekannt, auch wenn aufgrund der Funktion im Sicherheitsapparat eine Mitgliedschaft offensichtlich war. Zu den Mitgliedern gehörten regelmäßig: der Präsident der Volkskammer, der Vorsitzende des Ministerrates und dessen beiden ersten Stellvertreter, die Minister des Innern, für Nationale Verteidigung und für Staatssicherheit, die Sekretäre des Zentralkomitees der SED für Sicherheit, Wirtschaft, Landwirtschaft und Ideologie, die Chefs der Politischen Hauptverwaltung und des Hauptstabes der NVA, der Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen im Zentralkomitee der SED, sowie die SED-Sekretäre der grenznahen Bezirke Suhl und Magdeburg. Grundlage der Leitungsfunktion des Vorsitzenden sollte das interne Statut des NVR sein. Demnach regelte der Vorsitzende auch seine Stellvertretung selbst. Erich Honecker hat sich jedoch niemals bei einer Sitzung des NVR vertreten lassen. Er führte bei jeder der Sitzungen von 1971 bis 1989 in seiner Zeit als Vorsitzender des NVR auch den Vorsitz. Dass er davon nicht abwich, wird wohl vor allem der persönlichen Erinnerung an sein eigenes Vorgehen gegen Ulbricht zugeschrieben werden können. Die letzte und 78. Sitzung des NVR fand am 16. Juni 1989 statt. In der kurzen Zeit des Vorsitzes von Egon Krenz ist keine NVR-Sitzung überliefert.
Der NVR wurde in der Literatur auch als „Notstandsregierung im Wartestand“ beschrieben. In der Tat wären aufgrund der Gesetzgebung der DDR im Verteidigungszustand umfangreiche Befugnisse auf den NVR gefallen, was die ohnehin schwache parlamentarische Konstruktion der DDR vollends zugunsten der SED-Spitze und parteieigener Strukturen ausgehebelt hätte. Dabei sind die organisatorischen Vorkehrungen für den Verteidigungszustand von der SED-Parteiorganisation und der Warschauer Vertragsorganisation vielseitig beeinflusst worden. So konnte neben der organisatorischen Spitze der Landesverteidigung im NVR und der „Führungsstelle der Partei- und Staatsführung“ der Einfluss der Partei und der sowjetischen militärischen Führung auf dem Territorium und in den Bezirken erhalten bleiben. Besonders in der Innenpolitik und der Wirtschaft der DDR hätte sich der NVR durch ein nur für den Verteidigungszustand vorbereitetes System von „Beauftragten“ ausgewirkt, dass alle Bereiche von Staat und Gesellschaft auf wenige Schlüsselpositionen unter dem Vorsitzenden des NVR bzw. dem Generalsekretär der SED konzentriert hätte.
Der NVR zeichnete aber nicht nur für die Umsetzung der Leitlinien und Beschlüsse der Militär- und Sicherheitspolitik der DDR verantwortlich. Gleichzeitig diente er der Sowjetunion über das Vereinte Kommando des Warschauer Vertrages zur Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen in dem ostdeutschen Staat sowie gegenüber Westeuropa und der NATO. Damit war der NVR wohl weitgehend funktionsidentisch mit den Sicherheitsstrukturen der anderen nichtsowjetischen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes. Auch diese fungierten letztlich als Instrumente zur Wahrung der sowjetischen Hegemonial- und Bündnisinteressen in Osteuropa, wenn es auch kein einheitliches Modell der Sicherheitsorganisation im Warschauer Pakt gegeben hat und in einzelnen Staaten des Ostblocks historische Strukturen und nationale Besonderheiten bewahrt worden waren.
Impressum | Datenschutz
Die Flagge des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates
(41. Sitzung des NVR vom 14.7.1972, Bl. 248)
(41. Sitzung des NVR vom 14.7.1972, Bl. 248)
NVR-Ausweis von Walter Ulbricht
Quelle: Bundesarchiv
Nachlass Lotte Ulbricht, NY U 182 Nr. 2
Foto: Ramona Simon
Impressum | Datenschutz